Auch wenn Kreta sich dem
sommerlichen und herbstlichen Besucher karg und verbrannt darbietet: dem
Pflanzenfreund ist die Inselnatur zu jeder Jahreszeit ein Paradies und zudem
ein spannendes und unterhaltsames Buch, nicht nur wenn im Frühjahr sich ein
Blütensegen unter den Olivenbäumen entfaltet und gar von den karstigen
Schluchtwänden wilde Tulpen winken.
Aufgrund der
naturgeschichtlichen Entwicklungen und seiner Insellage ist Kreta von einem für
europäische Verhältnisse außerordentlichen Artenreichtum. Man findet ca. 1700
Arten vor, von denen 10% als endemisch gelten, also nur auf der Insel
vorkommen. Doch nicht nur wegen seiner Endemiten zieht Kreta das
pflanzenkundliche Interesse auf sich: man kann hier exemplarisch die
wichtigsten Vertreter der Flora des östlichen oder gar gesamten Mittelmeerraums
studieren, besonders wenn man den Blick auch auf alte Kulturpflanzen oder
jüngere Einwanderer richtet. Unsere Perspektive ist freilich auch nicht primär
die des Botanikers. Der Autor – der sich ansonsten mit Sprache, Literatur und
Landeskunde der romanischen Länder befasst – möchte einer Auswahl von Gewächsen
eine Hommage erweisen, die Geschichte und Geschichten gemacht haben, sei es
wegen ihrer oft kuriosen volksmedizinischen Tugenden, wegen ihrer Verwendung im
traditionellen bäuerlichen Leben, oder wegen ihres symbolischen Gehalts und der
Rolle, die sie in Mythos und Religion erlangt haben. Auch die
assoziationsreichen volkstümlichen Bezeichnungen der Pflanzen im Griechischen
sollen hier und dort ihre Geschichten erzählen, und nicht zuletzt nimmt der
Beitrag einige jener Pflanzen ins Visier, bei deren Anblick so mancher
Kreta-Wanderer sich immer wieder vornimmt, einmal ein Bestimmungsbuch zur Hand
zu nehmen.[*]
Dass Kreta von den klimatischen Gegebenheiten her
eigentlich eine Waldinsel sein könnte und zu minoischer Zeit auch noch war,
sieht man heute nur noch an Relikten: solchen philologischer Natur, wie dem
alten Namen Ida für das Psiloritis-Massiv, der sich aus einem dorischen
Wort für Waldgebirge herleiten soll oder an eher vereinzelten, lichten
Waldinseln, die sich vor allem noch an den unzugänglichen Hängen und Schluchten
der Sfakia und der Weißen Berge im Südwesten bewahrt haben. Ein Charakterbaum
ist die Zypresse und zwar die sogenannte „weibliche“ Varietät (Cuparissus
sempervirens - θηλυκό
κυπαρίσσι).
Es handelt sich dabei nicht um im biologischen Sinne weibliche Exemplare einer
zweihäusigen Spezies, sondern um eine besondere Erscheinungsform jener Art, die
in ihrem „männlichen“, schlanken, hochaufragenden Habitus ein klassisches
Symbol der mediterranen Landschaft ist. (1-7b)
Ältere Sfakioten erinnern sich noch an die dichten
Eichenwälder, durch die sich die Saumpfade an die Nordküste schlängelten: erst
in den Notzeiten der 40er Jahre wurden die Bestände der immergrünen Steineiche
(Quercus ilex – πρινάρι) als Brennholz eingeschlagen und zu Kohle
verarbeitet. Eine andere immergrüne Eiche, die in dieser Gegend noch vereinzelt
– oft auch durch Ziegenverbiss entstellt – zu finden ist, ist die Gerber-
oder Kermeseiche (Quercus coccifera). Auf ihren Blättern lebt das
Insekt Coccus ilicis, aus dessen Weibchen man einen rotfärbenden Stoff
gewann. Mit diesem Karmesinrot
hat Theseus seine Segel gefärbt, als er nach Kreta fuhr, um den Minotaurus zu
töten. (2-10)
Als einen der wenigen
endemischen Bäume findet man auf dem Omalos und anderen Hochebenen die Zelkove
(Zelkova ambelicea od. Ambelicea cretica - αμπελιτσιά). Der Name dieses Reliktes aus einer Zeit, da Kreta
noch mit dem asiatischen Festland verbunden war, mag sich vom αμπέλι, dem Weinstock, herleiten. Denn selbst die dickeren
Zweige des Baumes sind von einer erstaunlichen Biegsamkeit und werden zur
Herstellung der charakteristischen Hirtenstäbe (κατσούνα) verwendet. (3-18)
Ein besonders erlauchter Vertreter der kretischen
Baumwelt ist schließlich die Kreta-Dattelpalme (Phoenix theophrasti
– [κρητικός]
φοίνικας). Neben der Zwergfächerpalme Chamaerops
humilis, die auf Kreta nicht wild vorkommt, ist es die einzige europäische
Palmenart. Eine Reiseführer-Legende besagt, dass sie aus Dattelkernen
hervorgegangen sei, die sarazenische Piraten an kretische Strände spuckten –
insbesondere an dem heute touristisch herausgeputzten Strand von Vái. Der Name
dieses Ortes geht zurück auf das Wort für die Palmzweige (το
βάγιο[ν]), die zum Palmsonntag geschnitten werden und ist
voll der Geschichte dieses mythischen Gewächses, denn er lässt sich auf ein
altägyptisches Etymon b’j zurückführen. In Wirklichkeit wuchs die Palme
hier schon lange vor den Alt- und Mittelägyptern: ein Überbleibsel
voreiszeitlicher Wärmeperioden, das die Zeiten an den wenigen Mündungen
ganzjährig wasserführender Bachläufe überdauert hat. Tatsächlich findet man
Ortsnamen wie Fínikas, Finikiá, Finikúnda etc. an verschiedenen Stellen,
die vermutlich in der Antike noch entsprechende Biotope aufwiesen, wie z. B.
beim heutigen Lutró in der Sfakiá.
Von der aus Nordafrika
stammenden Phoenixpalme unterscheidet sich die kretische Verwandte nicht nur
dadurch, dass man ihre Früchte tatsächlich lieber schnell ausspuckt, sondern
vor allem durch Mehrstämmigkeit und relativ geringe Wuchshöhe bis zu etwa 10 m.
Da der antike Naturforscher Theophrast genau diese Eigenarten der Palme
beschrieb und obendrein noch ein Vorkommen in Lapäa (eben dem antiken Finikas
und heutigen Lutró) erwähnte, kann es als sicher gelten, dass er diese Art und
nicht die echte Dattelpalme meinte, die damals wohl in Griechenland noch weit
weniger verbreitet war. Zu Recht also erhielt der edle Baum seinen Namen und
wurde – wenn auch spät – vor einigen Jahrzehnten nicht ohne philologische
Grundlage von der Botanik als eigene Spezies anerkannt. (4-29d)
Sind Olivenhaine Wälder? Die Findigkeit
kretischer Bauern und Subventionsjäger (um keinen härteren Ausdruck zu
verwenden) verlangt, dass auch die altehrwürdige eliá Erwähnung findet,
wenn es um das geht, was auf Kreta Wald war oder sein könnte. Nicht nur, dass
de facto vor allem seit der osmanischen Herrschaft der Olivenbaum monokulturell
weite Flächen erobert hat und ihnen so einen grünen Anstrich verleiht, sondern
Wiederaufforstungsprogramme honorieren neuerdings tatsächlich auch die
Bepflanzung mit schnellwachsenden und -tragenden Kleinoliven (μουρέλα). Der ökonomisch denkende moderne Landwirt kann
somit zeitweise für einen neu angelegten Hain gleich mehrfach europäische
Unterstützung beantragen: einmal für jede neu gepflanzte Olive als Ölbaum, nach
wenigen Jahren für das daraus gepresste grüne Gold und nochmals für die
Gesamtanlage, wenn sie als Wiederaufforstungsmaßnahme (αναδασμός) deklariert wurde. Dabei wird häufig in Kauf
genommen, dass die in Olivenhainen traditionell artenreiche Kleinflora und
-fauna durch den oft gedankenlosen Einsatz von Schädlings- und
Unkrautbekämpfungsmitteln stark geschädigt wird.
Für das heutige Kreta allemal charakteristischer als
der arg dezimierte Wald ist der botanisch als Macchia zu bezeichnende
mediterrane Vegetationstypus, den man auf Kreta in mittleren Höhenlagen
vorfindet. Obwohl es sich bereits um eine Degeneration des ursprünglichen
Bewuchses handelt, die sich dort einstellt, wo Brände und intensive Rodungen am
Werk waren, findet man sie hauptsächlich im „grünen“ Westen der Insel, wo sie
sich dank den relativ hohen winterlichen Niederschlägen als immergrüner
Buschwald von bis zu 2 m Höhe entwickelt. Man trifft hier auf stattliche
Vertreter der Heide-„Kraut“-Gewächse (Ericaceae - ρίκια) wie die Baumheide oder den interessanten Erdbeerbaum
(Arbutus unedo - κουμαριά). Im
Herbst trägt er gleichzeitig die letztjährigen, äußerlich erdbeerähnlichen
Früchte und neue Blüten. Sein lateinischer Name wird so interpretiert, dass man
von seinen außen rauen und innen mehligen, etwas faden Früchten nur eine essen
soll: unum edo. Dioskurides berichtet, dass sie – ungeachtet diverser
Heilwirkungen – Kopfschmerzen verursachen und sogar betrunken machen, denn im
überreifen Zustand gehen sie noch am Baum in die alkoholische Gärung über und
bringen es auf 0,5 Volumenprozent. Es liegt daher nahe, sie zur
Schnapsherstellung zu verwenden, was auf Kreta „privat“ vorkommt, besonders
aber in Spanien und Portugal üblich ist. Die im Dezember zugleich blühenden und
fruchtenden Zweige sind ein schöner Weihnachtsschmuck und fungieren somit quasi
als die griechische Stechpalme. Eine autochthone Abart (Arbutus andrachne)
besticht zu alledem durch ihre leuchtend dunkelrote Rinde. (5-42)
Bis in Küstennähe, ja sogar
direkt am Meeresstrand wächst der Mastixstrauch (Pistacia lentiscus
– μαστιχόδεντρο, τσικουδιά,
σκίνο), der sich im Herbst mit roten Früchten
schmückt. Mit der Pistazie Pistacia vera, deren immer beliebtere Nüsse
zumeist aus dem Iran zu uns kommen, ist er nahe verwandt. Auf der Insel Chios
betreibt man traditionell den Anbau von Mastix. Durch Einritzen des Stammes
lässt sich das mastíchi-Harz gewinnen, das einst osmanischen Damen als
Kaugummi diente und auch heute noch Schnäpse und Süßwaren parfümiert und sogar modernsten Eissorten ein ároma polítiko – also
einen Hauch von Konstantinopel – verleiht. Die Bezeichnung tsikudiá
macht die Pflanze zumindest volksetymologisch zum „Kaugummibaum“, von dem die tsikles
kommen. Das über das Englische internationalisierte Wort chicle, stammt
aus der Sprache der Azteken, und bezeichnet dort jenen altmexikanischen
Gummibaum, aus dem mit der gleichen Methode bis in jüngste Zeit die Rohmasse
für den „westlichen Kaugummi“ gewonnen wurde. Dass es sich beim Mastix nicht um
ein pures Genussmittel handelt, wusste schon Dioskurides, der ein Rezept für
Lentiskenwein als Mittel gegen Mundschleimhautentzündung anführt. Die Substanz
ist appetitanregend und findet sich auch im Uzo wieder. (6-48)
Aus der Macchia dringen wir noch tiefer vor in die
heutige Realität der kretischen Land- und Pflanzenschaft. De facto entspricht
sie zu einem großen Teil dem Vegetationstyp der bis etwa 1 m hohen Garrigue.
Mit diesem Wort bezeichnet man in Südfrankreich die schon erwähnte Kermeseiche,
die eben auch unter härteren Witterungs- und Beweidungsbedingungen noch vegetieren
kann. In dieser Formation dominieren logischerweise Gewächse, die aus
verschiedensten Gründen von Ziegen und Schafen verschmäht werden. Dazu gehört
eine für Kreta sehr typische Heilpflanze, der Apfeltragende Salbei (Salvia
pomifera - φασκομηλιά). Reich an Stoffen, die z.B. bei Hals- und
Zahnfleischentzündung, Erkältung und Katarrhen ihre lindernde Wirkung
entfalten, verwendet man ihn gerne für Teezubereitungen. Doch auch dem Wanderer
kann er in sommerlicher Glut Labung bieten: Die „Äpfel“, die er manchmal trägt,
sind etwa kirschgroße, tennisballartige und erstaunlich saftige Galläpfel, die
durchaus wohlschmeckend sind und als durstlöschend gelten. (7-131)
Einen ähnlichen Habitus weist das etwas größere Strauchige
Brandkraut (Phlomis fruticosa – αγκάραθος) auf, mit seinen silbern behaarten Blättern und
seinen im April gelb leuchtenden Blüten. Ein Kloster in der Nähe von Iraklio
trägt heute seinen Namen, weil ein Hirte dort zu Füßen eines angárathos
eine wundertätige Ikone entdeckte, und auf wirklich wundersame Weise brachte
es im 16. Jh. dreimal in Folge einen Patriarch von Alexandrien hervor. (7b-51)
In noch viel expliziterem
Sinne ein „monastisches Kraut“ ist das Keuschlamm, auch Mönchspfeffer
genannt (Vitex agnus castus - λυγαριά, αγνία). Seine tatsächlich pfefferartigen Samen verwandte
man in den Klosterküchen als Anti-Aphrodisiakum, denn, wie es heißt,
unterdrücken sie den Geschlechtstrieb. Es wird aber auch gegen allerlei
Frauenleiden und Wechseljahrsbeschwerden empfohlen und findet sich durchaus als
Bestandteil von Pharmaka, die frau in einer normalen deutschen Apotheke kaufen
kann. In antiken Zeiten, da Festlichkeiten zu Ehren der Demeter gefeiert
wurden, schmückten die Jungfrauen mit den violett blühenden (und recht
penetrant riechenden) Zweigen das Lager, um ihre Keuschheit zu sichern. Die
Zweige der Ligariá sind sehr biegsam und eignen sich zur Herstellung von
Flechtwerk. Odysseus benutzte sie, um seine Gefährten unter den Bäuchen der
Schafe festzubinden, als er zur Flucht aus der Höhle des Polyphem rüstete. (8-54)
Eine Charakterpflanze der Garrigue ist die Zistrose
(Cistus incanus ssp. creticus –
λαδανιά), von der es auch eine endemische
Spezies gibt. Sie hält sich gut an Standorten, über die Brände hinweg gefegt
sind, denn das Feuer begünstigt gerade die Verbreitung der Samen. Alle
Zistrosen fallen durch ihre wie zerknittert aussehenden Blütenblätter auf. Die
gewellten Blätter der Kretischen Zistrose scheiden bei großer Hitze ein
wertvolles Harz aus (auch eine Schutzfunktion der Pflanze): den duftenden
Gummistoff ladanum,
der in der Parfümerie und Naturheilkunde Verwendung findet und früher sogar als
Rauschmittel gedient haben soll. Noch heute sieht man manchmal an besonders
heißen Tagen die „Zistrosenschläger“: sie ziehen mit einem Besenstil übers
Land, an dem Leder oder Lappen befestigt sind und schlagen auf die Pflanzen
ein. Herodot berichtete, dass die Hirten ihr Vieh in den Cistus trieben, um es
anschließend zu scheren und die Wolle auszukochen, und Dioskurides kommentiert:
„Ladanum hat den schönsten Geruch und stammt vom übelriechendsten Ort, nämlich
vom Barte der Ziegen.“ (8b-56)
Wenig attraktiv für Ziegengaumen sind die
verschiedenen Euphorbien oder Wolfsmilcharten (Γαλατσίδες), die sich ja vor allem in Trockengebieten Afrikas
und auf den Kanaren formenreich entfaltet haben. Die Dornbusch-Wolfsmilch
(Euphorbia acanthothamnos – γαλατοστιβίδα, αιματόχορτο) tritt uns in der typischen Kugelbusch-Wuchsform
entgegen: einen beißenden Giftsaft absondernd, außen dornig, innen grün,
verteidigt sie sich nicht nur erfolgreich gegen das Vieh, sondern schafft im
windgeschützten Innern des Kissens auch noch ihr eigenes Mikroklima. Ihre
beiden Vernakularnamen weisen auf zwei traditionelle Heilanwendungen hin:
nämlich vermischt mit Brombeerwurzel gegen Bluthochdruck und – Milch für Milch
– als Mittel zur Anregung der Milchdrüsen stillender Mütter. (9-59/59sw)
Unangenehm für den Wanderer kann die Begegnung mit
der Palisaden-Wolfsmilch (Euphorbia characias - γαλατσίδα, φλόμος) werden, denn gerät ihr Milchsaft auf die Haut,
verursacht er unter Sonneneinwirkung üble Verbrennungen bis zum Dritten Grad.
Es ist daher einleuchtend, dass Dioskurides die Milch der Palisaden-Wolfsmilch
u.a. als Enthaarungsmittel empfiehlt. Den ngr. Namen flómos hat sie mit
verschiedenen anderen Giftpflanzen gemein: mit diesem Wort bezeichnet man auch
generell Substanzen, die man ins Wasser schüttet, um die Fische zu betäuben und
dann leichter zu fangen, und genau das kann man auch mit dem Saft dieser
Wolfsmilch tun. Dieselbe Wirkung, sogar auf den Menschen, sagt man der
volkstümlich gleichfalls flómos genannten Königskerze (Arcturus
ssp.) nach. Schon beim bloßen Vorübergehen sollen die Ausdünstungen einem
den Sinn rauben, und man würde dann das von dem Pflanzennamen abgeleitetete
Verb verwenden, um zu sagen: φλόμωσα („mir ist ganz schwindlig geworden“). (10-90)
Eine weitere Degenerationsform
des urprünglichen Pflanzenkleides der Insel, die sich im Sommer und Herbst kaum
noch von der Steinwüste unterscheidet, wären dann die Phrygana oder frígana,
in denen fast ausschließlich maximal halbmeterhohe, zumeist dornige Gewächse
wie die schon erwähnte Dornbusch-Wolfsmilch oder die Dornige
Bibernelle (Sarcopoterium spinosum - αφάνα) gedeihen. Man erkennt sie gut an der auffälligen
Wabenstruktur der oberflächlich zumeist abgefressenen Ästchen. Man kann den
Busch direkt als Besen oder Handfeger verwenden und ihn nachher als Anmachholz
dem Ofen zuführen. (10b-65)
Nicht allzu viel Phantasie ist
vonnöten, um sich den Weg zur Unterwelt wie eine Phrygana-Einöde vorzustellen.
Tatsächlich wächst hier jener mythische Affodill (Asphodelus aestivus
- ασφεντιλιά), von dem es
heißt, dass seine stärkereichen Wurzeln den Verstorbenen als Wegzehrung
dienten. Im zeitigen Frühjahr übersäen die weißrosa Blütenstände die
Steinwüsten. Heute wird sie nicht mehr gegessen, aber angeblich stellt man noch
Schnaps daraus her. In der Tat kann man jedoch die etwas schleimigen und
obendrein heilkräftigen Wurzeln, die wie gelbe knotige Fingerchen anmuten,
frittieren und dann als eine Art archaische und etwas bittere Pommes-Frites
genießen, wenngleich diese Pflanze nicht zu den klassischen
χόρτα gehört, von denen noch die Rede sein wird. (11-78)
Keineswegs für kulinarische
Experimente geeignet ist die Meerzwiebel (Urginea maritima -
σκυλοκρέμιδο). Als
kretatypischer Geophyt – Zwiebel- und Knollengewächse machen über 15% der
kretischen Flora aus – verschläft sie den Sommer und treibt ab dem ersten Regen
im September/Oktober ihre nackten Blütenstiele, die sich dann zwischen
verbranntem Gestein im Winde wiegen. Die kindskopfgroße Zwiebel, die das halbe
Jahr ohne Laubschmuck aus der Erde schaut, ist als digitaloides Herztonikum –
also ähnlich dem Fingerhut und dem Maiglöckchen – voller hochwirksamer und in
normaler Konzentration hochgiftiger Essenzen. Nicht zufällig ist sie eine der
ältesten Medizinalpflanzen, über die Aufzeichnungen aus dem 4. Jh. vor Christus
vorliegen. Doch ihre innere Anwendung ist gefährlich – weniger bedenklich die
ihrem äußeren Gebrauch zugeschriebenen Tugenden. In Griechenland ist die nackte
Zwiebel als Neujahrsgeschenk beliebt, wofür es zweierlei Gründe geben mag: zum
einen soll sie – über der Tür aufgehängt – Glück bringen, vielleicht weil sie
mitten im Winter gleichsam aus dem Nichts und im ausgegrabenen Zustand grüne
Blätter treibt. Falls das Glück ausbleibt, kann man sie auf die Schwelle legen
und hoffen, dass sie entsprechend ihrem volkstümlichen Namen „Hundszwiebel“
eventuell lästige Vierbeiner vertreibt. Auch als Rattengift wäre die
vielseitige Knolle einsetzbar. (12-74)
Wir verlassen nun die frígana:
das Wort erinnert nicht zufällig an die friganiés, jenen auch paximádi
genannten steinharten Zwieback, den wir auf kretischen Wanderungen als Notverpflegung dabei haben. Und das
Wort kommt ja auch von φρύγω, was so viel heißt wie rösten. Um nun der Röstung
auf den kargen frígana-Heiden zu entgehen, suchen wir in einer der
vielen Schluchten Zuflucht, die als botanische Rückzugsgebiete besonderes
attraktiv sind. Es finden sich viele Endemiten und Pflanzen, die nur hier, an
den absolut unzugänglichen Steilwänden als Chasmopyten – also Gewächse der
Abgründe und Felsspalten – überdauern konnten. Zwischen den Felsklippen der farángia,
mitunter auch an Bruchsteinmauern verlassener Häuser wächst ein Prunkstück der
kretischen Flora, die Gefiederte Felsenglockenblume (Petromarula
pinnata – μάρουλο). Ihr lateinischer Name greift die volkstümliche Bezeichnung márulo
auf, was die Annahme nahe legt, dass der Kreter sie auf eine Stufe mit dem marúli
stellt, dem in Griechenland ziemlich normalen Romana-Salat, jener wichtigsten
Alternative zur choriátiki saláta. Tatsächlich ist diese Glockenblume,
besonders ihre Triebspitzen, ein beliebtes Wildgemüse; etwas bitter, wie auch
der Römersalat, der seinen griechischen Namen vom lateinischen Wort amarullus
ableitet. (13-83)
Ein weiteres sehr praktisches einheimisches
Schluchtgewächs ist der Kretische Ebenholzstrauch (Ebenus cretica
– αρχοντόξυλο, πλουμί), ein Vertreter der Leguminosen oder
Schmetterlingsblütler. Mit dem afrikanischen Ebenholz hat er gemeinsam, dass
sein Holz sehr hart ist und im älteren Zustand dunkle Farbnuancen aufweist.
Diesen edlen Charakter drückt sein einer Volksname archondóxilo,
„Herrenholz“ aus. Der andere, plumí, – also von lat. pluma,
„Feder“ – weist darauf hin, dass man einst die flaumigen und weichen
Blütenstände, die im Mai eine leuchtend rote Farbe annehmen, aus den
Kalkfelswänden gerupft hat und sie als Daunenersatz in Kissen und Bettdecken
verwendete. (14-86)
Als Schluchtwandbewohner von
ebensolchem Adel – gleichsam ein Star der kretischen Volksapotheke – darf auch
der kretische Diktam (Origanum dictamnus – δίκταμος, έροντας, σταματόχορτο) nicht unerwähnt bleiben. Der Name leitet sich wohl
ab von Díkti und thamnos, also Busch der am Dikti(-Wald)-Gebirge
wächst. In der Tat sprießt das Wunderkraut an den unzugänglichsten Stellen, und
seine Suche ist nicht ungefährlich. Doch wer stürzt und sich verletzt, wird
vielleicht gleich wieder geheilt. Aphrodite (der er den Beinamen érodas
verdankt) soll die Verletzung des trojanischen Helden Aeneas damit geheilt
haben. Aristoteles berichtet in seiner Tierkunde, dass die vom giftigen Jägerpfeil getroffenen
Wildziegen auf Kreta das Kraut aufsuchten und fraßen: ihr Körper schied das
Gift aus, und die Wunde verheilte. Das zart beflaumte Gewächs, das neuerdings
auch gewerblich angebaut wird, dient heute vor allem als Magentee und ist
Bestandteil von allerlei Kräuter- und Klosterlikören, u. a. auch der Bénédictine.
Der Diktam war so wertvoll, dass man ihn Theophrast zufolge in den hohlen
Blütenschäften des Gemeinen Steckenkrauts oder Riesenfenchels (Ferula
communis – κουφόξυλο, άρτικα) aufbewahrte, der seine Eigenschaften besonders gut
konservierte. Diese wirklich beachtliche Pflanze kann bis zu 3 m hoch werden,
entwickelt im Frühjahr gewaltige gelbe Blütendolden und ist noch in anderer
Hinsicht kurios. Wenn man das Mark im Stamm anzündet, verbrennt es, aber nur
sehr langsam, ohne dass das Feuer nach außen gelangen kann. Daher die Legende,
dass Prometheus, als er den Titanen das Feuer gestohlen hatte, es im Strunk des
kufóxilo transportierte. Den gleichen Namen („Hohlholz“) gibt man auch
dem gleichfalls markigen sambúkos oder Holunder. (15-93)
Dass der Pflanzenkenner auf einer Wanderung über
Kretas steinige Pfade nicht verhungern muss, wurde bereits offenbar. Wenn ihn
die Schluchten der Südküste zum Libyschen Meer hin entlassen, kann er an dessen
Gestaden eine weitere Delikatesse aufspüren und verkosten, die in Chanias
Markthallen und feineren Restaurants hochpreisig angeboten wird: die Dornige
Wegwarte (Cichorium spinosum –
σταμναγκάθι).
Erstaunlicherweise wächst sie entweder nur direkt am Meer oder aber auf den
Hochebenen ab 800 m. Ihr griechischer Name stamnangáthi bedeutet
„Krugdorn“, und erzählt uns, dass man sie einst auf den Wasserkrug legte, damit
keine Insekten hineinfielen. Das Kraut sieht eigentlich unserer Wegwarte oder
Zichorie sehr ähnlich und blüht ebenso leuchtend blau, aber die ganze Pflanze
steckt sozusagen in einem Dornen-Schutzpanzer aus Überresten früherer
Vegetationsperioden, den man vor der Zubereitung erst mühsam entfernen muss, um
an die meist recht spärliche Grünmasse zu gelangen. Die Arbeit lohnt sich
allerdings, und das substanzreiche, angenehm bitterliche stamnangáthi fällt
beim Kochen auch weit weniger zusammen als andere Wildgemüse. Und es ist – wie
sogar eingefleischte sfakiotische Fleischesser zugeben –
καλύτερα απ’το
κρέας („besser als Fleisch“)! (16-125)
Die letzte Abteilung unseres Streifzugs durch die
kretischen Pflanzengeschichten wollen wir – laienhaft gesprochen – den „Blumen“
widmen, das heißt allerlei am Wegesrand oder in der Einöde freundlich
leuchtenden Blütengewächsen, von denen natürlich auch wieder die meisten für
den (Wissens-)Hungrigen einen mehr oder weniger praktischen Nutzen aufweisen.
So kann man etwa auf den Hochebenen von Askifu oder Asfendu gleich neben der
Stachelzichorie die Schopf-Traubenhyazinthe (Muscari comosum -
βολβός, βροβλιός) antreffen,
die mit ihren leckeren Zwiebeln nicht weniger hübsch ist als die bei uns als
Zierpflanze gepflegte sogenannte Vernachlässigte Traubenhyazinthe (Muscari
neglectum). Es mag zunächst irgendwie pietätlos scheinen, einfach so
Blumenzwiebeln zu verspeisen. Dass das aber eine alte Geschichte ist, sagt
schon der lateinische Name muscari comosum – essbare Traubenhyazynthe.
Die Zwiebeln werden in Essig eingelegt oder auch gekocht und mit Essig und
Olivenöl zerstampft. Auf Kreta heißt die Pflanze volvós oder vrovliós
(< lat. bulbus), also einfach Zwiebel oder Knolle, sowie bei uns allium
cepa die Gemüsezwiebel, und ist in gleicher Weise, wenn auch teurer, im
Gemüseladen zu finden. (17-129)
Wieder ausschließlich auf Kreta beheimatet ist das Kretische
Alpenveilchen (Cyclamen creticum –
κυκλάμινο). Es wächst an feuchten
und geschützten Stellen, wie z. B. in den Kastanienwäldern des Westens. Im
Gegensatz zum rosafarbenen Persischen Alpenveilchen, das uns als Zierpflanze
vertraut ist, blüht es im April meist reinweiß. Der „runde“ Name Cyclamen oder kiklámino
bezieht sich auf die scheibenförmige Wurzelknolle; daher auch die ältere
deutsche Bezeichnung „Persische Erdscheibe“ und übrigens auch „Schweinebrot“,
denn die Schweine scheinen das panum porcinum wie Trüffeln ausgegraben
und gerne verspeist zu haben. Während es ihnen nicht schadete, schreibt
Dioskurides der Knolle eine so starke abortive Wirkung zu, dass er schwangeren
Frauen sogar davon abrät, auch bloß über die Pflanze hinwegzuschreiten. (18-112)
Sowohl Schönes als auch eher Hässliches und auf jeden
Fall nichts leicht Verdauliches findet sich unter den auf Kreta weit
verbreiteten Vertretern der Aronstabgewächse (Araceae). Die meisten
Aronstäbe sind Gleitfallenblumen, d. h. sie ziehen mit einem für Menschen eher
unangenehmen Geruch Fliegen und andere Insekten an, die dann in diesem Kelch
schmachten müssen, bis die Befruchtung vollzogen ist. Dann vertrocknet das
Hüllblatt und die Insekten können entweichen. Die typischste auf Kreta
vertretene Art ist in dieser Hinsicht die Drachen- oder Schlangenwurz
(Dracunculus vulgaris – δρακοντιά, φειδόχορτο). Der Name rührt von der gerade bei dieser Art
schlangenhautartigen, marmorierten Maserung des Schaftes her, doch bezeichnet
der Volksmund auch andere Araceen als drakondiá und fidóchorto,
Drachen- und Schlangenkraut. Es heißt auch, dass wer sich die Hände mit ihren Blättern
einreibt, nicht von den (auf Kreta sowieso raren) Schlangen gebissen wird. Was
Fotos nicht zeigen können, ist der täuschend echte Aasgeruch, den die Pflanze
ausströmt, wenn sie in voller Blüte steht. Dass sie auch túrkos und arápis
genannt wird, zeugt nicht gerade von freundlicher Einschätzung der
Nachbarvölker. Dem ruchlosen Image der Pflanze stehen ihre vielfältigen
Heileffekte entgegen. Dioskurides nennt weit über zwanzig, wobei krampflösende,
antiseptische, augen- und magenfreundliche sowie aphrodisierende Wirkungen
hervorgehoben werden. (19-115)
„Es geht auch anders“, sagt
uns der durchaus gefällige Kretische Aronstab (Arum creticum). Er
ist in den Felseinöden, die er bevölkert, lieblich, ja geradezu vornehm
anzusehen und duftet betörend. (20-119/119d) Ein weitere endemische Aracee ist Arum idaicum,
das sich von dem gemeinkretischen vor allem durch einen dunklen Blütenkolben
unterscheidet. Am häufigsten begegnet man allerdings einer Abart des im
gesamten Mittelmeerraum häufigen Italienischen Aronstabs (Arum
italicum ssp. concinnatum – „κολοκάσι“). Nachforschungen zur Bedeutung des Namens eines
heute verlassenen Dorfes in Südwestkreta (Kolokásia), in dem diese
Pflanze besonders häufig ist, brachten kulturbotanische Kuriosa an den Tag.
Fragt man naturkundige ältere Sfakioten, was ein kolokási sei, so
erfährt man, es handele sich um ein hellgrünes lulúdi (Blume) mit einer
kartoffelartigen Knolle, die man in ganz schlimmen Zeiten auch schon gegessen
habe. Das verweist bereits – abgesehen von der Essbarkeit – recht eindeutig auf
das italische Arum. Vermutlich waren Araber die Taufpaten des südkretischen kolokási,
denn seit der Antike wird im gegenüber liegenden Nordafrika eine Aronstabart
kultiviert, deren stärkehaltige Knollen in den Tropen und feuchten Subtropen
bis heute ein Grundnahrungsmittel darstellen: Colocasia esculenta, auch Colocasia
antiquorum, heute meist als Taro bekannt, in Libyen und Ägypten als kulkas.
Die alten Autoren, denen diese essbare Pflanze bekannt war, meinten, das (u. a.
wegen des Gehalts an Oxalsäurekristallen) ungenießbare, aber an
pharmazeutischen Wirkstoffen reiche italienische Arum sei eine
klimatisch bedingte Degeneration desselben, und stritten sich über Wirkungen
und Gefährlichkeit. Letztlich bestätigt aber der Schweizer Botaniker Lieutard,
was der spanische Dioskurid-Kommentator Laguna berichtet: nach Abkochen in
mehreren Wassern könne man auch das italienisch-griechische kolokási
verzehren, sei es um Verschleimungen der Atemwege zu lösen oder einfach weil
der Hunger groß und nichts anders verfügbar ist. (21-122)
Zum Ausklang unserer Wanderung wollen wir versuchen,
die Gedanken an praktische oder gar kommerzielle Verwertung hinter uns zu
lassen, zumindest weitgehend. Wir werfen dazu einen Blick auf die bunte und
vielfältige Schar der kretischen Orchideen. Unter den 60-70 auf der Insel
vertretenen Orchideensippen befinden sich mindestens sechs endemische Arten.
Nicht dazu gehört das relativ häufige Italienische Knabenkraut (Orchis
italica – σαλέπι,
σερνικοβότανο).
Auch diese anmutige Blume hat man nun lange Zeit zur bloßen Nutzpflanze
herabgewürdigt. Aus ihren getrockneten und zermahlenen Knollen wurde nämlich
das salépi gewonnen, Grundstoff eines beruhigenden Aufgusses, der von
Straßenverkäufern in einer Art Samowar angeboten wurde. Jede Pflanze hat zwei
Knollen (die vorjährige und die diesjährige), die – wenn man sie ausgräbt – wie
Hoden von der Basis herabhängen, daher der Name Knabenkraut oder griechisch sernikovótano
(< arsenikovótano, „männliches Kraut“). Der wiss. Name orchis
ist in dieser Hinsicht noch deutlicher. Dazu kommt, dass die Einzelblüten bei
einigen Arten wie kleine Männchen aussehen. Natürlich haben die Knollen in
bestimmter Hinsicht auch anregende Wirkungen: den thessalischen Frauen gab man
die jungen und frischeren mit Ziegenmilch, um das Verlangen nach dem Manne zu
steigern. Wenn man hingegen die Vorjahresknollen verabreichte, stellte sich der
genau gegenläufige Effekt ein. (22-159)
Am stärksten vertreten ist auf Kreta mit 26 Sippen
die Gattung Ophrys oder Ragwurz. Hierunter befinden sich die
meisten endemischen Arten, deren Bestimmung aber schwierig ist, denn die
Isolation hat zur Herausbildung zahlreicher Hybriden geführt, und so ist die
Namensgebung ständig im Fluss. Gemeinsam haben die Ragwurzen die mitunter stark
behaarte Lippe, die in Farbe und Form an Hummeln oder Bienen erinnert und zu
einer entsprechenden Namensgebung führte. (23-166)
Die meisten kretischen Ophrysarten werden der Gruppe Ophrys
mammosa zugeschrieben: „Busen“-Ragwurz wegen zweier Ausbeulungen der
Unterlippe. Außerdem schmücken sie sich mit einer charakteristischen, aber
stark variierenden H-förmigen Zeichnung auf dunklem Grund. Als sogenannte
Sexualtäuschblumen locken die „Bienchen“ (melissákia, so der harmlosere
griechische Name) durch ihren insektenartig gestalteten Blüten männliche
Hautflügler an. (24-168d)
Die griechischen Bezeichnungen, denen man in
Bestimmungsbüchern begegnet, sind mit Vorsicht zu genießen, denn die
Volksbotanik macht sich bei diesen vollkommen nutzlosen Gewächsen nicht die
Mühe, streng nach Bienchen, Wespen und Hummeln zu unterscheiden. Besonders
schöne wie Heldreichs Ragwurz (Ophrys scolopax ssp. Heldreichii –
πασχαλίτσα
της Λαμπρής) – im Deutschen gewiss auch nicht besonders
phantasievoll – verdienen sich jedoch hyperbolische Namen wie „Österchen von
Ostern“. (25-170d)
*
Kretas Pflanzenwelt ist bedroht: von Land- und
Viehwirtschaft, ausufernder Bautätigkeit und vor allem wegen des schwindenden
Wissens über ihre nicht nur biologische, sondern auch kulturelle Bedeutung.
Freilich gibt es auf Kreta ein wachsendes ökologisches Bewusstsein und
mancherorts viel guten Willen, vom Verschwinden bedrohte Arten und ganze
Biotope zu retten. So ist beispielsweise am Beginn der Ruvas-Schlucht am
Südhang des Psiloritis ein Naturschutzgebiet entstanden, das im Prinzip einen
der letzten größeren Bestände der sehr seltenen einheimischen Orchidee Kretisches
Waldvögelein (Cephalanthera cuculata –
κεφαλάνθηρο) umfasst. (26-176)
Schrift- und Schautafeln liefern dem Wanderer
Informationen und ermahnen, nichts auszureißen und mitzunehmen, nicht einmal
einen der reichlich vorhandenen Steine. Vor allem aber ist es
verständlicherweise verboten, jegliches Getier herumlaufen zu lassen. Warum nun
trotz dieser fast teutonischen Sorgfalt kein Waldvögelein und auch sonst wenig
spektakulärer Bewuchs zu entdecken ist, sieht man schnell, wenn man den Blick
einige Meter weiter schweifen lässt: „Alles Käse“, glaubt man aus dem Blöken
und Mähen der Schafe und Ziegen herauszuhören, die innerhalb einer vorsorglich
errichteten Umzäunung, EU-subventioniert und mit feinem botanischem Gespür, die
Dornige Wegwarte, den letzten Grashalm und das endemische Waldvögelein abweiden
oder gar samt Wurzel aus dem Boden reißen. Der kretischen Pflanzengesellschaft
bleibt zu wünschen, dass sie nicht in wenigen Jahren mit all ihren Schönheiten
und Kuriositäten auf diese Weise zu Grunde gehen möge. (27-177)
Der Artikel Kretas grüne Geschichte(n) ist ein Auszug aus einem
kulturbotanischen Kretaführer dessen Erscheinen für Ende 2004 geplant ist.
Näheres zu diesem Buch und zur kretischen Pflanzenwelt erfahren Sie auf www.kolokasia.de
[*] Zur griechischen Flora im
allgemeinen und zur kretischen im besonderen liegt viel älteres und neueres
Schrifttum vor. Hier eine kleine Auswahl von Titeln, die heute in Deutschland
oder Griechenland im Buchhandel erhältlich sind: Alibertis, Antonis: Die Samariaschlucht
und ihre Pflanzen: Ein Wanderführer. Heraklion 1994. - Clauser,
Marina: Die Flora Kretas. Firenze 2000. - Font Quer, Pío: Plantas
medicinales: El Dioscórides renovado. Barcelona 1992. - Γερωνυμάκης, Κανάκης: Σφακιανή
Λαογραφία. Αθήνα 1998.
- Iatridis, Yanoukos: Blumen von Kreta. Athen 1986. - Jahn, Ralf / Schönfelder, Peter: Exkursionsflora
für Kreta. Stuttgart 1995. - Lange, Dagmar / Wächter, Monika: Reiseführer
Natur: Kreta. München 1999. - Lieutaghi, Pierre: Le livre des
bonnes herbes: Pratique et imaginaire de la plante sauvage en Europe
occidentale. Arles
1991. - Sfikas, George: Bäume und Sträucher Griechenlands. Athen 1987. -
Sfikas, George: Die Wildblumen Griechenlands. Athen 1978. -
Σφήκας,
Γιώργος: Αγριολούλουδα
της Κρήτης.
Αθήνα 1999.